Ich bin in Kopenhagen, spaziere durch die Stadt und habe meine Nikon FM dabei. Die Sonne steht schon sehr tief und die großen Häuser werfen ihre langen, dunklen Schatten auf die Straßen. Jede Ecke hällt eine andere Überraschung bereit. Greife ich zu meiner Kamera und drücke den Auslöser? Ja. Lieber einmal mehr als zu wenig. In dieser Stadt kann man kaum etwas falsch machen. Jede Gegend hat ihren Reiz und ist ein Foto wert. Als ich eine Weile unterwegs bin, fällt mir auf, dass in der Innenstadt kaum Verkehr ist und das viele Straßen, die zum Rathaus führen, abgesperrt sind. Ich denke mir erst einmal nichts dabei und halte weiter Ausschau nach einem schönen Schattenfall zwischen den Häusern oder in den kleinen Gassen. Nach einer Weile komme ich dem Rathausplatz immer näher und höre lauter werdende Stimmen. Es hört sich an wie eine Kundgebung oder eine Demonstration, wo ein Wortführer mit einem Megafon seine Botschaft verkündet. Keine Ahnung. Ich interessiere mich für so etwas nicht und mache eigentlich immer einen großen Bogen um eben solche Geschichten. Eigentlich. Würden mir nicht diese zwei Männer auffallen, die mir entgegen kommen. Der eine sieht recht normal aus – kurze Hose, ein lockeres Shirt, Sonnenbrille. Der andere wiederum trägt einen weißen Lederrock, ein Netzhemd, Highheels und hat eine übergroße Sonnenbrille auf. Sie kommen mir entgegen und telefonieren wohl gerade mit einem Kumpel, wo sie sich als nächstes treffen wollen. Ich versuche mit einem von beiden Augenkontakt herzustellen, um irgendwie zu signalisieren, dass ich es toll finde, wie er seinen Kleidungsstil trägt und auch so selbstbewusst damit rumläuft … aber sie schauen mich nicht an. Ich blicke noch hinterher, drehe mich aber schnell wieder um, um nicht wie ein Idiot darzustehen, der Leuten mit extrovertierten Outfits hinterherstarrt.

Ich mache mich weiter auf den Weg Richtung Rathausplatz, wo die lauten Stimmen herkommen. Je mehr ich mich nähere, um so schneller wird mir klar, was hier los ist. Laute Musik, Leute in verrückten Outfits und Pride-Flaggen, soweit das Auge reicht. Überall. Aufkleber, Autos die beklebt sind, Supermarktfilialen, die Pridestreifen im Hintergrund ihres Logos haben. Buntheit, soweit das Auge reicht. Der ganze Marktplatz ist gefüllt mit Bühnen, Verkaufswagen und bunten Leuten. Es ist Prideweek in Kopenhagen. Ich fühle mich auf der Veranstaltung sofort wohl und die Menschen dort sind mir auf Anhieb sympathisch. Ich kennte sie nicht. Woher auch? Aber es liegt dieses Gefühl von Miteinander statt Gegeneinander, von Verständnis in der Luft. Es ist ein bunter Querschnitt an Personen auf dem Marktplatz. Normalos, die einfach nur schauen, was dort los ist – mich eingeschlossen. Sie sitzen meist auf Bänken, haben ein Bier in der Hand, vielleicht noch einen Snack in der anderen und schauen gespannt zu, was dort passiert. Dann die übereifrigen Teenager, die mit Prideflaggen als Cape, Pridetattoos und gefärbten Haaren durch die Gegend laufen. Bei denen habe ich aber das Gefühl, dass sie nur hier sind, weil es darum geht, krampfhaft anders zu sein als der Rest der Gesellschaft. Außenseiter, die sich in kleinen Gruppen zusammenfinden und dann losziehen und Spaß haben. Irgendwie auch sympathisch. Dann sind da noch die Drags, die auf der Bühne stehen und gerade irgendwelche Interviews geben und Spiele mit dem Publikum spielen – worüber genau geredet wird, kann ich nicht verstehen. Ich glaube, sie spielen gerade Bingo. Dann gibt es noch die Einzelgänger. Zumindest wirken sie so. Diese Jungs und Mädels haben so eine starke Ausstrahlung, dass für mich gleich klar ist, dass sie auf Männer oder Frauen oder beides stehen. Ich laufe herum und mache Fotos. Es stört niemanden. Ich bemerke aber immer wieder Blicke aus verschiedenen Richtungen. Aber sie gelten wohl nicht der Kamera und den Fotos, die ich mache – sondern dem Kerl dahinter. Ich erwiderte den ein oder anderen Blick mit einem freundlichen Lächeln. Vermeide es aber zu lange zu gucken, um kein Gespräch zu provozieren. Ich hole mir ein Carlsberg in der Dose und hocke mich in den Schatten. Obwohl die Sonne tief steht, ist es noch bruttig heiß – 36 Grad. Ich sitze auf den Stufen, die zum Rathaus hochführen. Ich hätte mich auch in die Sonnenstühle legen können, die überall herumstehen aber dann würde ich wohl nach 5 Minuten einschlafen. Zum Glück waren sie eh alle besetzt. Nach einiger Zeit ist die Show auf der Bühne zu Ende und die Drags kommen runter zum Fotos machen. Ich mache mich auf den Weg, um zu schauen, ob auch ein Bild für mich drin ist. Plötzlich wird es enorm voll und aus allen Ecken strömen Leute, um auch ein Bild zusammen mit den verkleideten Männern zu ergattern. Ich lasse sie alle machen … mir ihren Handys… macht mal … Na einiger Zeit wird es ruhiger und ich merke bei der ein oder anderen Drag, wie auch bei ihnen langsam die Luft raus ist. Die Hitze, die Show, die Verkleidung, dann die vielen Leute, die sie belagern. Sie sind fertig … wollen bestimmt nach Hause und wahrscheinlich auch raus aus den Klamotten. Ich will keine Fotos mehr machen. Ich würde mir dann vorgekommen wie einer von diesen Leuten, die nur ein weiteres Bild abstauben wollen. Ich schiebe meine Kamera wieder zur Seite und schaue einfach nur zu. Als das letzte Foto vom Mob gemacht wird, kommen die Drags in meine Richtung, da dies der Weg zu ihren Sachen ist. Ich lächele sie an und bekomme diesmal ein Lächeln zurück. Es macht mich glücklich. Ein Lächeln. Ein einfaches Lächeln. Was doch so viel mehr beinhaltet. Freiheit. Stolz. Liebe. Sich so ausdrücken zu können, wie man es möchte. Ist es nicht das, was jeder möchte? Vorurteilslos und bedingungslos das auszuleben oder zu machen, was einem das Gefühl sagt. Ich schaue ihnen noch länger hinterher, sehe, wie sie sich am Tresen ihr Bier bestellen und es in der drückenden Hitze herunterspülen. Ich spüre wieder Blicke aus verschiedenen Richtungen. Ist es, weil ich alleine herumlaufe … ohne Begleitung? Ich weiß es nicht.

Die Abendsonne ist nun fast hinter den Hochhäusern Kopenhagens verschwunden und die Musik wird nun aufgedreht. Die lauten Stimmen sind verschwunden und die offiziellen Gesprächsgruppen haben sich aufgelöst. Jetzt soll wohl die Party losgehen. Der DJ fummelt hektisch an seinem Mischpult rum und der erste Discobeat donnert aus den Boxen. Ein Zeichen für mich zu gehen. Einerseits reizt es mich, den Leuten noch beim Tanzen zuzuschauen. Aber dafür müsste ich wohl noch ein paar mehr Bier trinken. Ich mache mich auf den Weg zur U-Bahn – zum Hotel. Ich fahre die Rolltreppen der Metro herunter und sehe immer noch überall Prideflaggen. In den Schaufenstern, an Autos und an Fahrrädern. Ich muss schmunzeln. Ich setzte mich in die Bahn. Mir gegenüber sitzt ein Mann. Er schläft. Ein Obdachloser? Ich frage mich, wie lange er wohl schon fährt und warum ihn noch keiner geweckt hat? Naja. Atmen tut er wenigstens noch. Ich beobachte ihn 5 Stationen lang. Schaue mir seine runtergewetzten und dreckigen Klamotten an. Bis ich seine Einkaufstüte entdecke. Eine große Papiertüte. Von 7Eleven. Sie ist prall gefüllt. Unten ist sie kaputt und durch das Gewicht, das von oben herunterdrückt, wird das Loch in der Tüte immer größer. Als die U-Bahn in eine Station einfährt und bremst, ist es soweit – das Loch reißt auf und eine Gertränkedose rollt heraus. Sie ist grün. Bier. Slots Pilsener. Ich stoppe die Dose mit meinem Fuß. Hebe sie auf und sage „Hey“ zu dem Mann. Er wacht auf und sieht mich erschrocken an. So, wie das eben ist, wenn man von einem Fremden aus dem Schlaf gerissen wird. Ich zeige auf des Loch in seiner Tüte und dann strecke ich ihm die Dose Bier entgegen. Er nimmt sie, fummelte an der Tüte rum, lege sich wieder in seine vorherige Position und macht die Augen zu. Ich schaue mir nochmal seine Tüte an. Er hat sie nun so gedreht, dass nichts mehr herausfallen kann. Dann entdecke ich die großen Buchtstaben auf der Papiertüte. Das Wort „Pride“ ist ganz groß raufgedruckt. In Regenbogenfarben. Ich frage mich ob er wohl weiß, was das Wort und die Farben für eine Bedeutung haben?! Und wenn ja, ob es ihn überhaupt kümmert und für ihn von Bedeutung ist? Wie auch immer. Für ihn wird es wohl nur eine weitere von den vielen Mottotüten bleiben, die es so gibt. In diesem Sinne „Carpe Diem“ – um beim Thema Mottos zu bleiben.   


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