Für Paul ist Radfahren mehr eine Notwendigkeit als ein Vergnügen. Er braucht sein Fahrrad um von A nach B zu kommen. Was es für ein Modell ist, wenn er mit einem fährt ist ihm eigentlich schon immer egal gewesen. Mountainbike, Hollandrad oder Rennrad … ganz egal – Hauptsache es fährt und hat im besten Fall noch Licht am Rad, damit es keinen Stress mit der Polizei gibt. Ganz ehrlich – wer braucht schon Licht am Fahrrad? Klar, es ist dunkel, man sieht nichts, man soll gesehen werden. Das sind die gängigen Argumente. Aber in einer Großstadt, in der alles hell erleuchtet ist und man ewig weit gucken kann ... für ihn nicht nachvollziehbar. Ehrlich gesagt hat er nur Licht am Rad um nicht von der Polizei angehalten zu werden und dann im schlimmsten Fall noch ein Bußgeld zu bezahlen. Zudem sieht es auch meistens noch scheiße aus. „Einmal anhalten bitte! Sie haben schon gesehen, dass sie kein Licht am Rad haben? Da muss ich sie jetzt leider mit einem Bußgeld verwarnen“, würde der Fahrradpolizist sagen. „Aber mein Licht ist gerade eben kaputt gegangen und ich wollte es gleich reparieren!“ würde Paul dann wohl darauf antworten, ohne auch nur im geringsten zu verstecken, dass er dem Polizisten gerade direkt und ganz bewusst ins Gesicht lügt. Es sind doch immer wieder die gleichen Dialoge und Floskeln, in denen man sich verliert. Egal. Bleiben wir beim Wesentlichen. Die Fahrradkultur generell ist eine ganz eigene. Es gibt die Fahrradspezis, die sich bis ins kleinste Detail mit ihren Fahrradteilen auskennen, es gibt die Rennradfahrer, die Mountainbiker, die E-Bikefahrer … zu viele Kategorien – aber es gibt sie alle und man sieht sie auch auf den Straßen der ganzen Welt.

Auch hier in Kopenhagen. Nur hier ist es irgendwie anders. Hier sind bzw. wirken sie alle sympathischer. Was ich sagen will ist, dass der Großteil der fahrradfahrenden Menschen hier in Kopenhagen ein positives Gefühl vermittelt. Woanders sieht man schlechtgelaunte Menschen auf den Rädern, Rentner, die meckern, Jugendliche, die einem den Weg abschneiden, gestresste Muttis in ihren Lastenrädern, die schnell das Kind beim nächsten Schnupperkurs abgeben müssen – aber hier nicht. Liegt es an den Leuten, an der Kultur, an der Stadt? Wo man hinschaut, sieht man fast nur Fahrradfahrer – man kommt sich schon komisch vor, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Wenn man Glück hat, kommt einem nicht nur einer entgegen, nein, wenn sie kommen, dann kommen sie meist in Kolonnen angefahren. Erzwungen durch die ganzen Ampelphasen in der Innenstadt. Wo sich der Auto- und Fahrradverkehr anstauen, schiebt sich die Kolonne durch die Straßen wie ein wilder Mob. Es ist ein bunter Mix von allen gängigen Fahrradtypen. Ein Konglomerat aus Reifen, Satteln, Rahmen, Klingeln und schwitzenden, lachenden, gestressten Menschen. Paul ist in Kopenhagen, in Vesterbro, zu Fuß mit einer analogen Nikon FM Kamera unterwegs. Doch wünscht er sich hier und da doch auch ein Fahrrad zu haben, um die Straßen und Gassen zu erkunden. Die Leichtigkeit, Flexibilität, die sich eröffnet, ist nicht von der Hand zu weisen. Kein Auto, Bus oder Bahn. Einfach aufs Fahrrad setzen, lostreten und den Fahrtwind im Gesicht spüren. Die Straße erkunden, anhalten und Orte entdecken, wie früher in der Kindheit. Wo Unbeschwertheit noch groß geschrieben wurde und man voller Faszination jeden Winkel der Stadt entdeckte. Das alles hat schon was und übt auf ihn eine gewisse Faszination aus. Wenn dann noch das passende Fahrrad dabei ist – wunderbar. Aber worum geht es bei einem Fahrrad eigentlich genau. Um Funktionalität, Optik oder doch Stil? Da sind wir wieder bei den verschiedenen Fahrradtypen. Paul ordnet sich eher in die Kategorie Optik ein. Wenn ein Fahrrad schön ist, dann ist es gut. Wenn es ein wenig unbequem ist… was macht das schon? Sollte man es jetzt mit einem funktionalen, ergonomisch geformten Gelsattel verhunzen? Klar. Sicherlich würde man damit keine 50 Kilometer am Stück fahren können ohne seinen Arsch wundzuscheuern. Aber man fährt ja auch nicht mit dem Lastenrad auf einer Mountainbike-Strecke und beschwert sich dann, dass man nicht weit komme. Jedes Gebiet hat seinen Fahrradtypen.

Aber auf den langen Asphaltstraßen Kopenhagens lässt sich alles gut fahren. Wie bei den meisten Dingen kommt es auf das Gefühl an, das man beim fahren spürt und nicht auf den ganzen Technik Schnickschnack. Beim Umherlaufen und ausschauhaltend nach der nächsten Fahrradkuriosität fallen Paul immer wieder Fahrerinnen und Fahrer auf, die etwas um den Hals tragen. Er bemerkt diese komisch aussehenden Schläuche fast gar nicht, es könnten robuste und lange Fahrradschlösser sein, die um den Hals getragen werden, da sie nicht am Fahrrad befestigt werden können. Aber irgendwie sieht es doch anders aus, klobiger, fast schon, wie ein Schal oder so etwas ähnliches. Je mehr Menschen er auf ihren Fahrrädern damit sieht, desto mehr fängt es langsam an ihm zu dämmern. Er hatt sowas doch schon mal irgendwo gesehen. Eine Werbung für einen Fahrradhelm, der sich öffnet, wenn man mit dem Fahrrad stürzt. Das war‘s. Quasi ein Airbag für den Kopf. Jetzt macht alles Sinn. Deshalb tragen diese Personen auch keinen Helm. Wozu auch? Der hängt ja um den Hals. In diesem Augenblick, geprägt durch verschiedene Unfallszenarien, die ihm so durch den Kopf gehen – alle mit diesem Kopf-Airbag, sieht er plötzlich ein Mädchen, das ihr Fahrrad vom Bordstein aufhebt. Sie ist relativ jung, vielleicht 18 oder 19 Jahre. Sie hat ein weißes Oberteil und einen blauen Rock an. Das Outfit sieht gut aus, aber darum geht es hier nicht. Sie hebt ihr Fahrrad auf und fasst sich ans Knie, welches blutet. Sie ist mit ihrem Fahrrad gestürzt und hat sich das Knie aufgeschürft. Sie muss den Bordstein nicht gesehen haben und mit dem Rad ausgerutscht sein. Fast vor seiner Nase und er hat es nicht einmal gehört. Es geht Ihr soweit gut. Paul geht zu ihr hin und fragt sie: „Are you ok? Can I help you?“, aber sie antwortet nur in einem beschäftigten Ton: „No thanks. I’m alright“. Sie steigt auf ihr Fahrrad und fährt davon. Als ob nichts gewesen wäre. Das Fahrrad hat auch keine grösseren Schäden, vielleicht ein wenig abgeplitterer Lack oder so. Aber ansonsten nichts sichtbares. Da kommt ihm in den Sinn, dass es bei so vielen Fahrradfahrern doch auch mächtig viele Unfälle geben musste. Bei diesen Fahrradkolonnen fahren die Fahrradfahrer dicht an dicht. Nur eine falsche Bewegung oder gar zu frühe oder zu späte Bremsung würde das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen. Aber offensichtlich scheint es irgendwie zu gehen. Paul hat in der Zeit in Kopenhagen nicht einen weiteren Unfall bemerkt. Ob hier alle wohl rücksichtsvoller und umsichtiger mit ihren Mitmenschen umgehen? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch die immer wiederkehrende Flucht nach vorne mit dem Fahrrad. Schau nicht zurück. Versuche, die nächste Ampelphase nicht zu verpassen. Ich muss schneller, wendiger und immer erster am Ziel sein. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Paul schaut auf seine Kamera und prüft, wie viele Aufnahmen er noch machen kann. Zwölf mal kann er noch auf den Auslöser seiner Nikon drücken. Gut. Ein wenig beruhigt geht er weiter an der Hauptstraße nahe des Tivoli vorbei und hällt Ausschau nach dem nächsten Fahrradmob. Bum. Da ist das nächste Motiv. Ein Lastenrad, mit einer kompletten Famile. Der Vater, er ist so mitte 30, hat eine neonfarbenen Beanie auf dem Kopf und tritt mit einem leicht genervten Gesicht in die Pedale. Vorne auf dem Lastenaufsatz sitzt ein Kleinkind, so um die 5 Jahre. Es ist ziemlich gut gelaunt – klar es muss ja nichts machen, außer die Fahrt zu geniessen. Und dann ist da noch ein Hund, welcher eingequetscht nur mit dem Kopf rausschauend zu sehen ist und eine Mutter, ebenfalls mit einem neonfarbenden Beanie auf dem Kopf und einer großen Einkaufstüte von einem dänischen Biosupermarkt auf dem Arm. Paul schaut durch den Sucher der Kamera und weiß gar nicht, wo er zuerst hinschauen soll. Das Gesamtbild ist lustig und abstoßend zugleich, wie eine tote Taube, bei der man nicht wegsehen kann. Er stellt die Linse scharf, fokussiert den Vater und drückt ab. Immer und immer wieder. Sie fahren nicht sonderlich schnell. Aber bei mehreren Leuten auf einem Foto ist die Chance nicht sehr hoch, gleich beim ersten Auslösen die richtigen Gesichtsausdrücke zu treffen. Egal. Irgendwas wird schon dabei sein. Doch das einzige an das Paul nun immer wieder denken muss, sind neonfarbene Beanies, die Fahrrad fahren. Danke dafür... denkt er sich.


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