Das erste Mal traff ich Gunder, als ich auf dem Weg zu einem 7Eleven Supermarkt war. In Kopenhagen findet man 7Eleven Supermärkte überall verstreut. Egal ob große oder kleine, man findet sie gefühlt an jeder Ecke. Ich bog mit meiner Kamera gerade in die gut besuchte Frederiksberggade in der Innenstadt ein, da fällt mir eine Gruppe von Obdachlosen auf, die sich gerade lautstark über irgendetwas unterhielt. Sie sprachen auf dänisch, also konnte ich es nicht verstehen. Was ich aber verstand, war das Lachen und der freudige Gesichtsausdruck auf ihren Gesichtern. Einer erzählte wohl gerade eine lustige Geschichte – so hatte es zumindest den Anschein. Ich ging etwas langsamer an ihnen vorbei, um noch etwas mehr von der Situation mitzubekommen. Da bemerkte ich plötzlich einen Mann, den ich vor etwa einer Stunde bereits an einer anderen Stelle in der Innenstadt gesehen hatte. Er trug eine Leica M6 um den Hals – das erregte schon beim ersten Treffen meine Aufmerkamkeit. Er war auch Fotograf und wir hatten uns für das gleiche Motiv entschieden. So standen wir also fast nebeneinander und drückten unsere Auslöser. Er ging auf die Obdachlosen zu und begrüßte sie mit einem „Hej“. Sie bemerkten ihn zuerst nicht, doch dann löste sich ihre lustige Unterhaltung auf und alle Blicke ware auf den Fotografen gerichtet. Sie schienen sich zu kennen, denn es dauerte nicht lange und er fing an, Fotos von ihnen zu machen. Klick, Kamera aufziehen, Klick, Kamera aufziehen – so ging es eine ganze Weile. Es waren keine gestellten Fotos, denn alle unterhielten sich weiter, während er fotografierte. Ich stand einfach nur da und schaute zu. Komisch, dass sie mich gar nicht wahrgenommen hatten, denn es war schon etwas penetrant, wie ich geglotzt hatte. Teils, weil ich auch gerne Fotos von der Situation gemacht hätte und teils aus Begeisterung für die Leica M6 des dänischen Fotografen. 

Die ganze Situation löste sich nach ein paar Minuten auf, der Fotograf fuhr auf seinem Hollandfahrrad weg und die Obdachlosen waren immer noch in ein Gespräch vertieft. Ich ging nun auch weiter und bog in den 7Eleven ein, der direkt an der Ecke war. Er war klein, aber das war egal. Draußen war es heiss und ich wollte mir etwas zu trinken holen. Ich schaute mir die Auswahl an Getränken an und überlegte, in welcher Stimmung ich war – Cola, Bier oder doch eher ein Gatorade. Da bemerkte ich neben mir einen der Obdachlosen, die draußen saßen. Er schaute auch das Regal an. Ich überlegte, was er wohl nehmen würde? Sicherlich kein Gatorade. Ich wartete ab und wollte sehen, wo im Regal seine Hand hingehen würde. Ich tippte auf billiges dänisches Bier. Da lag ich gar nicht so falsch. Er nahm sich nicht nur eine, sondern gleich vier Dosen – wahrschenlich für seine Kollegen, die draußen warteten. Er nahm langsam eine Dose nach der anderen aus dem Regal. Plötzlich bemerkte ich, dass er die Dosen unauffällig in seine Jackentasche wandern ließ. Er hatte einen dicken, großen Parka an und dazu ein blaues Cappy, unter dem er seine blonden, fettigen Haare versteckte. Sie waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bei der Größe seiner Jacke fiel es in der Tat nicht auf, ob da zwei, drei oder eben vier Dosen drin versteckt waren. Trotzdem. Ich schaute mich kurz um. Kameras in jeder Ecke des Landens. War ja auch klar. Mitten im Zentrum. Wo jeden Tag die Menschamassen nur so durchrauschten. Da wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Security auftaucht und Gunder festhälte und ihm bestimmend sagen würde, dass er sie bitte begleiten solle. Woher ich seinen Namen weiß?! Er hat ihn mir gesagt. Aber ersteinmal weiter mit der Geschichte. Ich sah ihn also, die Dosen langsam in seinen Taschen verschwinden lassen. Er machte auch keinerlei Anstalten, sich umzusehen. Völlig selbstbewusst steckte er eine nach der anderen ein. Ich wartete noch einen Moment ab und schaute, was er als nächstes machte. Er blickte sich nicht großartig um, sondern setzte langsam den Weg zum Ausgang an. Ich konnte es ignorieren und einfach mein Getränk nehmen und zahlen oder schauen, dass er keinen Ärger bekommt. Was bringt ihm das auch. Ich kannte seinen ganzen Hintergrund oder die Beweggründe für seine momentane Lage nicht. Egal. Ich wollte nicht mitansehen, wie er gleich von der Security gebeten wird, die Taschen zu entleeren.

Ich ging schnell zum Eingang des kleinen Supermarktes und schnappte mir einen Korb. Dann ging ich  zurück zum Getränkeregal und nahm mir die gleiche Dose des Bieres, das Gunder genommen hatte, Slots Pilsener, und packte es in meinen Korb. Dann schaute ich, wo Gunder abgeblieben war. Er war fast am Ausgang angekommen und ich bewegte mich schnell in seine Richtung. Nicht zu schnell, denn ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Bei Gunder angekommen stellte ich meinen Korb direkt vor seine Füße. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Ob er den Korb wegstoßen würde um schnell nach draußen zu gelangen. Ob er mich vielleicht anpöbeln würde? Keine Ahnung. Ich schaute ihn an, zeigte auf meinen Korb mit der einen Dose Slots und sagte dann auf dänisch „jeg køber fem“. Das heißt soviel wie „ich kaufe fünf“ in diesem Falle Dosen. Das waren einige der dänischen Wörter, die ich so mit der Zeit aufgeschnappt hatte. Er schaute mich an und sagte nichts. Mir wurde langsam etwas mulmig, da so gar keine Reaktion von ihm kam. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und sagte „Mathias“ und zeigte mit der anderen auf mich. Er guckte mir weiterhin ohne eine Reaktion in die Augen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich erhallte ein lautes „Excuse me“ hinter mir und mir wurde blitzartig ziemlich warm. Es war eine Frau mit ihrer Tochter, die nach draußen wollten, aber nicht konnten, da wir den Ausgang blockierten. Ich machte den Weg frei, doch Gunder blieb wie angewurzelt stehen. Ich schaute ihn wieder an und hob nun den Korb hoch. Ich zeigte erneut drauf und sagte wieder „jeg køber fem“. Seine Hand ging nun langsam zu den Dosen und er holte eine nach der anderen aus seinem Parka und legte sie in den Korb. Dann ging er, ohne etwas zu sagen, den Ausgang hinaus. Ich war erleichtert. Keine Security. Ich ging zur Kasse und bezahlte die fünf Dosen. Wieviele Kronen ich genau bezahlt habe, weiß ich nicht mehr. Ich nahm die fünf Dosen in die Hand, versuchte sie so zu stapeln, dass sie mir nicht direkt runterfallen würden und balancierte dann vorsichtig zum Ausgang.

Draußen schlug mir die Hitze dann direkt wieder entgegen, doch zum Glück waren die Dosen angenehm kalt. Ich bog wieder in die Frederiksberggade ein und ging ein paar Meter dorthin, wo vorhin die Obdachlosen saßen. Sie waren alle noch da. Auch Gunder. Ich ging langsam auf sie zu, um nicht noch eine der Dosen auf den letzten Metern zu verlieren. Ich kündigte mich mit einem „Hej“ an und hockte mich hin. Vereinzelt kam ein „Hej“ zurück, doch in ihren Gesichtern war eher ein großes Fragezeichen zu sehen. Ich sagte weiter nichts und fing an, die Bierdosen zu verteilen. Sie griffen, ohne etwas zu sagen, zu und der Ein oder Andere lächelte auch. Nur Gunder zögerte ein wenig. Ich stellte ihm die Dose vor seine Füße und schaute ihn an. Ich sagte nochmal „Mathias“ und zeigte dabei auf mich. Dann nahm ich meine Dose und öffnete sie. Knack – der Schaum kam leicht durch die Öffnung raus und die Dose hatte nun auch schon leichtes Tauwasser angesetzt. Ich sagte „skål min ven“und hielt ihm meine Dose hin. Dann nahm er seine und öffnete sie. Nun fing auch er langsam an zu schmunzeln und hielt mir seine Dose entgegen mit den Worten „Skål. Jeg hedder Gunder.“ Wir stießen unsere Dosen aneinander, tranken einen ordentlichen Schluck und lächelten uns an.  


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