Paul war wieder mal in Berlin. Die Sonne schien und brachte die Herbstblätter zum leuchten. Für September hatte Paul Glück mit dem Wetter. Kein Regen, keine triste und graue Wolkenmasse am Himmel. Das war schon mal die halbe Miete, wenn man viel in der Stadt herumlaufen und was von ihr sehen wolle – und zusätzlich hob es ein wenig die Laune. Paul trug eine helle Jeansjacke, eine schwarze Jeans und dazu braue Lederboots. Diese hatten ihre beste Zeit schon hinter sich, würden wohl viele denken, aber mit der Zeit fingen sie erst an, ihre wahre Schönheit zu entfalten. Abgewetzt, aber trotzdem gut gepflegt. Paul pflegte sie regelmäßig mit einer Ledercreme und lies ab und an die Schuhsohle erneuern. Eine Investition, die er gerne tat, denn er wusste. wofür. Er war kein Freund von ständig neuen Schuhen und ehrlich gesagt, setzte ihn der Gedanke, neue zu kaufen, auch ziemlich unter Druck. Für seinen Rundgang durch Berlin hatte er wie immer seine analoge Nikon dabei und war auf der Suche nach dem ersten würdigen Motiv. Er sehnte sich wieder danach, den Auslöser der Kamera zu drücken, das Geräusch zu hören und mit dem Hebel den Kodakfilm weiterzutransportieren. Außerdem hatte er einen Walkman dabei. Einen Sony WM-22 in metallic silber blau. Er wollte diesesmal mit einem bestimmten Gefühl durch die Stadt gehen. Isoliert in seiner eigenen Gedankenwelt. Keine lauten Autogeräusche, schreiende Passanten oder bellende Hunde. Nur er, die Musik und die Stadt. Das ist es, was er wollte. Er setzte sich kurz auf die nächste Parkbank und fing an, in seinem Rucksack nach der Kassette zu suchen, die er sich extra von zu Hause mitgenommen und mit sehr viel Bedacht ausgewählt hatte. Declan Patrick MacManus alias Elvis Costello mit seinem 1979er Album Armed Forces. Es war eines seiner Lieblingsalben von Costello und er wurde nicht müde, es zu hören. Männer, die Hornbrillen trugen, hatten es ihm irgendwie angetan. Die Werke von Buddy Holly, Woddy Allen, Elvis Costello faszinierten ihn und ließen Paul in eine ganz eigene Welt eintauchen. Nach einer Weile hatte er die Kassette endlich gefunden und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.

Er klappte die Plastikhülle auf, ließ die Kassette in seine Hand gleiten, schob sie in den Walkman und klappte das Fach zu. Nachdem er den Play-Button gedrückt und das Abspielgerät in seine Jeansjackentasche gesteckt hatte, ertönten die ersten Worte von Costello in seinen Ohren „Oh, I just don‘t know where to begin“. Los ging es. Paul war in der U-Bahn-Station Hallesches Tor angekommen und wollte sich direkt ins Menschengemenge stürzen, um ein paar Berliner oder Touristen zu fotografieren. Wer, war ihm eigentlich egal, es ging nur darum, sie in ihrem Alltag zu zeigen. Er arbeitete sich langsam die Friedrichsstraße mit all ihren Seitenstraßen hoch in Richtung Brandenburger Tor. Er begegnete einer Menge interessanter Menschen, die sich, zumindest oberflächlich, von der Masse abhobem. Ein Klick nach dem anderen ertönte von der Nikon Kamera und der erste Film war schnell voll. Paul achtete darauf, dass er eine gute Mischung an Leuten vor die Linse bekam und nicht nur Frauen, die er mit Vorliebe fotografierte. Paul mochte Frauen generell lieber als Männer. Nicht nur auf das Körperliche bezogen. Er konnte sich einfach freier mit ihnen unterhalten. Kein Konkurrenzdenken oder übertriebene Männlichkeitsspielchen. Darauf hat er sich nie eingelassen und versuchte, solche Situationen stets zu meiden. Paul ist auch größtenteils unter Frauen aufgewachsen. Sein Vater verließ schon früh die Familie und die einzigen männlichen Bezugspunkte boten seine Onkel oder die Väter seiner Freunde – aber das war nicht dasselbe. So wuchs er ohne männlichen Gegenpol auf, was er damals nicht schlimm fand, sich heute allerdings auf sein Verhalten Männern sowie Frauen gegenüber auswirkte. Männliche Freunde hatte er so gut wie keine. Er vermisste es auch nicht sonderlich und hatte auch nicht den Drang danach, sich welche zu suchen. Er machte Erfahrungen, Probleme oder Empfindungen eher mit sich selbst aus und musste nicht immer alle seine Befindlichkeiten jemanden erzählen oder eine andere Meinung einholen. Wobei das auch nicht der richtige Weg war. Aber das ist eine anderen Geschichte. 

Mit der Musik auf den Ohren und dem Fokus auf dem nächsten Fotomotiv vergaß er die Zeit und das Gefühl, wieviel er schon gegangen war. Er fand sich plötzlich in einer U-Bahn-Station, genauer gesagt in der U-Bahn-Station Kochstraße wieder. Plötzlich realisierte er, wie weit er schon gegangen war und wie oft er schon die Kassette in seinem Walkman wechseln musste. Dreimal hat er sie bestimmt schon duchgehört und war jetzt wieder auf der A-Seite bei Lied Nummer 3 angekommen, was ihn schlagartig daran erinnerte, was sich direkt um die Ecke befand. „There was a Checkpoint Charlie - He didn‘t crack a smile - But it‘s no laughing party...“ sang Costello, bevor er zum bekannten Refrain „Oliver‘s army is here to stay - Oliver‘s army are on their way - And I would rather be anywhere else - But here today“ ansetzt. Er war kurz vorm bekannten und touristenüberlaufenden Checkpoint Charlie. Die beiden Fotos von Frank Thiel sind schon aus großer Entfernung zu sehen zumindet das von Jeffrey Harper, welches aus der Richtung, aus der er kommt, erstrahlt. Paul überkommt ein komisches Gefühl. Freude gepaart mit Sehnsucht. Ja, Sehnsucht. Wie die Sehnsucht nach einer Frau, in die man sich verliebt hat. Paul geht weiter in Richtung Grenzposten und drängelt sich an den vielen Touristen vorbei, um näher an das kleine weiße Holzhäuschen zu gelangen. Er sucht etwas. Eine Erinnerung. Immer wieder schieben sich Menschen an ihm vorbei und nehmen ihm die Sicht. Er hockt sich hin und rückt noch näher an das Haus. Da war es. Das, was er gesucht hatte. Ins Holz reingeritzt. Er fuhr mit den Fingern über die Einkerbungen und spürte jede Vertiefung. Es waren drei Worte. Sie waren auf englisch geschrieben.     

Es war vor ungefähr einem Jahr und Paul war wieder in Berlin. Er hatte die üblichen Spots schon abgelaufen und war nun am Checkpoint Charlie angekommen. Es war wie immer voll mit Touristen und Menschenmassen drängelten sich, um irgendwie ein Foto von dem Wachhäuschen zu ergattern – mit oder ohne einer Person davor. Es war eine sehr lange Schlange an Menschen, die sich langsam aber sicher in eine Richtung schob. Die unterschiedlichsten Menschen standen in der Schlage. Alles Touris. Berliner machen um solche Hotspots wohl eher einen Bogen. Jung, alt, dick und dünn. Die kuriosesten Dialekte prallten hier aufeinander. Paul beobachtete die Schlange schon eine Weile. Er fand das zuschauen beruhigend, die Schlange wurde ja auch nicht weniger und so verging auch nicht seine Lust, den Leuten beim Schlangestehen zuzuschauen. Er genoss einfach den Fluss der Menschen. Zwischendrin fielen ihm immer wieder zwei junge Frauen auf, die an ihrem Handy oder Fotoapparat rumdrückten. Sie wollten wohl ein Selfie von sich machen, so dass sie niemanden fragen mussten und probierten schon die Posen aus, die sie gleich schnell machen konnten, wenn sie dran waren. Es waren vielleicht noch fünf Personen vor ihnen. Allzulange sollte es also nicht mehr dauern. Irgendwie konnte Paul nicht die Augen von den Frauen lassen und so schaute er bei der Posensuche ununterbrochen zu. Sie schienen sich geeinigt zu haben, wer wie und wo zu stehen hat. Da fiel dem einen Mädchen plötzlich etwas aus der Tasche. Was genau es war, konnte Paul nicht ausmachen. Egal. Er ging schnell rüber und hebte es auf. Er war eine Packung Kaugummistreifen – Doublemint. Er sprach die eine dunkelhaarige Frau an, um es ihr wiederzugeben. „Entschuldige“, sagte Paul mit dünner Stimme. „Du hast deine Kaugummis fallen lassen. Sie sind aus deiner Tasche gerutscht siehst du, hier... der Reißverschluss war die ganze Zeit auf.“ Die Frau schaute sich plötzlich nervös um, da sie Paul nicht hatte kommen sehen und wunderte sich nun, warum er sie anprach. „Oh... Danke schön.“ erwiederte sie nun mit erleichterter Stimme. Und war offensichtlich froh, dass es kein Taschendieb oder ähnliches war, der bei ihr sein Glück versuchte. „Ja, ich weiß. Der Reißverschluss geht immer wieder auf. Ich muss da mal was machen lassen.“ sagte sie freudlich. Sie schaute Paul dabei die ganze Zeit in die Augen und er erwiderte ihren Blick. Er war ganz überrascht, dass sie den Blick solange hielt. Er war sonst nur kurze, unbedeutende Blicke von Menschen gewohnt, die er nicht kannte. Er ließ die Packung Doublemint in ihre Hand fallen und die Frau schob sie schnell in ihre Tasche zurück und fummelte solange am Reißverschluss rum, bis er einigermaßen hielt und die Tasche zu war. Sie waren jetzt an der Reihe. Paul war gerde dabei, sich umzudrehen und zurück an die Stelle zu gehen, von der er den besten Ausblick hatte, als ihn plötzlich eine Hand an seiner Hand festhielt. Ihn durchzog es wie ein Blitz, weil er damit nicht gerechnet hatte und auch nicht wusste, was er nun machen sollte. Die Hand schnell und erschrocken wegziehen oder erst einmal abwarten, was passierte? Die Hand war warm und weich und drückte nur so fest zu, wie es sein musste. Es ging eine Wärme von der Hand aus, die er als sehr angenehm empfand. „Warte mal kurz. Hast du kurz Zeit, ein Foto von mir und meiner Freundin vor dem Häuschen zu machen?“ fragte die Frau Paul ganz aufgeregt. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, so schnell ging alles. Ihm wurde auch direkt ganz flau im Magen. „Ja? Ok! Super Danke.“ hörte er im nächsten Moment die Frau sagen, ohne überhaupt die Chance einer Antwort zu haben. Die beiden Frauen freuten sich riesig und waren schon emsig dabei den passenden Punkt zu finden, wo sie dann in ihren eingeprobten Stellungen posieren konnten. Es ging alles sehr schnell und Paul wusste gar nicht genau, wie er sich jetzt verhalten sollte. Er verarbeitete immer noch die Situation, in der die Frau seine Hand gegriffen hatte und wurde direkt rot im Gesicht. Die ganze Situation überforderte ihn. Dann kam die dunkelhaarige Frau wieder auf ihn zu und reichte ihm ihr Handy. „Kennst Du dich damit aus? Ist ganz einfach. Hier ist der Knopf für den Auslöser und mach ruhig ein paar mehr Fotos. Meine Freundin und ich haben ein paar Posen, die gut aussehen.“ sagte die Frau. Paul achtete überhaput nicht auf das Handy oder darauf, was die Frau sagte. Er schaute sie die ganze Zeit an und da bemerkte er, wie sie immer schöner und schöner wurde. Sie hatte grüne Augen, kleine Grübchen und volle Lippen. Die Haare trug sie offen, sie waren glatt und ungefähr bis zu den Schulterblättern lang. Sie sahen sehr gepflegt aus und durch das Licht schimmerte es, so dass Paul sich darin verlieren hätte können. „Hast Du alles verstanden?“ fragte die Frau. Vollig entgeistert antwortete Paul mit einem unsicheren „Ja, hab ich. Kein Problem, kann losgehen.“ Die Frau hüpfte zurück zu ihrer Freundin und sie fingen an, sich gegenseitig zu mustern und zu schauen, ob alles passte. Ob die Haare richtig lagen, die Klamotten richtig saßen. Alles passte. Paul riss sich zusammen und schaute nun das erste mal auf das Handy. Es war zum Glück ein Iphone. Damit kannte er sich aus und beruhigte ihn ein wenig. 

Die Frauen fingen nun an zu posieren und Paul schaute auf dem Smartphonebildschirm, dass er den richtigen Ausschnitt wählte. „Ok. Dann mal los. Und lächeln nicht vergessen.“ sagte er mit nervöser Stimme. Sein Blick war die ganze Zeit auf die dunkelhaarige Frau gerichtet. Immer abwechselnd. Mal auf dem Bildschirm und dann wieder am Smartphone vorbei auf die „echte“ Frau. Er drückte ab so soft er konnte. Er konnte es nicht fassen, wie hübsch sie war und dazu noch sehr fotogen. Jedes Foto von ihr war eine Wucht. „Ich mach einfach weiter und ihr beide wechselt zwischendurch die Pose.“ rief Paul den beiden zu und bekam als Antwort ein Lächeln von beiden zurück. Die Posen waren jetzt nicht sonderlich toll, aber man merkte schon, dass sie das öfter machten. Es wirkte nicht unbeholfen, sondern schon relativ sicher und das half den Fotos ungemein. Wobei Paul das Wachhäuschen im Hintergrund und die Freundin relativ egal waren. Er hatte nur Augen für die braunhaarige Frau. Er wusste nicht, wie oft er schon auf den Auslöser gerdückt hatte. So langsam hatten die Frauen all ihre Posen aufgebraucht und ihnen fiel auch nichts weiter ein, als sich zu wiederholen. „Und was meinst du... ist was dabei?“ rief ihm die braunhaarige Schönheit zu. „Ja. Ich denke schon.“ rief Paul zurück. Die beiden kamen auf ihn zu und schnappten sich sofort ihr Handy. Von hinten drängelten ungeduldig die nächsten fotowütigen Touristen und so wurden die Frauen und Paul unsacht zur Seite geschoben. Alle drei standen jetzt neben dem Häuschen und die beiden Frauen fingen gleich an, sich die Fotos anzuschauen. Kein Danke oder sonst irgendwas. Sofort ran an die Fotoauswahl. Irgendwie schaffte Paul es nicht, sich aus der Situation zu befreien und so blieb er einfach stehen. Die beiden Frauen neben ihm, so dass er auch auf den Bildschirm schauen konnte, was er dann auch tat. Neben ihm stand die braunhaarige Frau. Er berührte sogar ihren Arm mit seinem, doches schien sie nicht weiter zu stören. Paul jedoch wusste wieder nicht, was er machen sollte. „Meine Güte. Du hast ja hunderte von Fotos gemacht... und die sehen ja alle gut aus. Wie sollen wir uns da entscheiden?!“ fragte die andere Frau. Paul sagte gar nichts, sondern war von der Situation geplättet. Erst fasste sie seine Hand an, dann berührte er ihren Arm und nun wurde auch noch ihr Duft vom Wind rübergeweht. Sie roch nach Parfüm. Sie roch perfekt. Nicht süß oder aufdringlich, sondern dezent und bestimmend. Genau passend, dachte er und sein Herz begann so zu pochen, dass er es intensiver spürte. Die Aufregung wollte einfach nicht weichen. Es blieb einfach stehen und tat nichts, ausser auf das Display zu gucken und den beiden Frauen zuzuhören, was sie über ihre Gesichtsausdrücke und Körperposen sagten. Mit der Zeit fing Paul an, sich die Frau, in die er sich wohl verguckt hatte, genauer anzuschauen. Sie hatte eine gute Figur. Also für sein Verständnis. Nicht zu dick, nicht zu dünn und auch nicht zu klein oder zu groß. Sie war vielleicht ein wenig kleiner als er. Vielleicht so um die 1,70 m groß. Sie tug eine enge Jeans und ein helles Oberteil ohne Print. Sie hatte eine Tasche dabei. Aus Leder und auch schon ein wenig abgenutzt. Genau wie seine Schuhe. Aber das machte sie um so schöner. Sie tug eine silberne Casio Uhr am rechten Handgelenk und ein paar Ringe an beiden Händen. Paul dachte sich, sie ist perfekt. Er kannte sie zwar erst sein wenigen Minuten, aber irgendwie sagte ihm sein Gefühl, dass diese Frau etwas besonderes ist. Die beiden Frauen wischten auf dem Smartphone rum und markierten Bild für Bild mit einem Herzchen. „Komm, wir setzen uns hin... ich kann nicht mehr stehen.“ sagte die Freundin zu Pauls braunhaariger Traumfrau. Sie setzten sich beide an die Seite des weißen Häuschens und waren sofort wieder in die Bildauswahl vertieft. Paul stand immer noch da und schaute total fasziniert auf seine Auserwählte und sein Herz hörte nicht auf zu rasen. Was sollte er auch tun? Sie fragen, ob sie Zeit hat. Oder etwa nach ihrer Nummer? Dazu war er zu schüchtern und außerdem war ihre Freundin dabei. Zwei gegen einen. Dazu hatte er nicht den Mut. Wo sie wohl herkamen, fragte er sich? Sie hatten keinen erkenbaren Akzent. Beide sprachen Hochdeutsch, ohne irgendeinen bestimmte regionalen Einschlag. Er wusste noch nicht einmal ihren Namen. Einfach fragen kam ihm komisch vor und war auch zum momentanen Zeitpunkt irgendwie nicht möglich. Sie waren immer noch in die Fotos vertieft. Plötzlich klingelte von der Freundin das Telefon. Sie ging aber nicht ran. Entweder hörte sie es nicht oder sie wollte es nicht hören. Bei der Geräuschkulisse hier mit den ganzen Menschen konnte man es schon leicht überhören. Es war ein ganz normaler Klingelton, der von jedem vor Ort sein konnte. Paul hockte sich hin und sagte in zögerlicher Stimme „Ich glaub, dein Handy klingelt?!“. „Was? Meins?“ erwiderte die Freundin. „Oh... Danke. Das hab ich überhaupt nicht gehört.“ Sie ging ran, aber hatte ihren Blick dann gleich wieder auf dem Smartphone mit den Fotos. Es war wohl eine weitere Freundin, die anrief und fragen wollte, was die beiden später noch machen. Soviel konnte Paul sich aus den Antworten zusammenreimen. Was sie wohl machen würden? Auf eine Party gehen? In einen Club oder sich in irgendeinem Hotel vollaufen lassen? Paul konnte es sich nicht vorstellen. Die Freundin legte auf. Sie hatte wohl beschlossen, was an dem Abend noch passieren würde. Paul schaute immer noch fasziniert der braunhaarigen Frau beim Bilder aussuchen zu. Sie war zu schön, um wegzuschauen. Wie sie immer lächelte, wenn sie ein Bild sah, auf dem sie sich nicht gefiel. Das hat sich bei ihm eingebrannt und er wollte, dass sie ihn auch wieder anschaut und anlächelt. So langsam kam Aufbruchstimmung bei den Frauen auf. Sie hatten vermutlich gar nicht mitbekommen, dass Paul die ganze Zeit dabei war und sie sich noch gar nicht bei ihm bedankt hatten. Paul nahm nun nochmal seinen Mut zusammen und fragte, ob Fotos dabei sind, auf denen sie sich schön finden?! „Ja, da sind auf jeden Fall welche dabei. Hast du toll gemacht.“ sagte die Brünette und lächelte ihn an. Paul reagierte mit einem schüchternen „Ja super, dann habt ihr ja was, an das ihr euch erinnern könnt.“ Wobei er innerlich zerbrach bei dem Gedanken, dass die zwei gleich weg sein würden und er sie nie wieder sehen würde. Die Freundin wollte nun los und fing schon an, loszugehen, als ihre Freundin sie noch zurückhielt und sagte, dass sie noch etwas machen wolle, es aber keiner mitbekommen solle. Sie hockte sich auf den Boden in Richtung Wachhäuschen und zog die beiden an sich ran. Die Freundin guckte verdutzt und Paul wusste auch nicht so recht, wie ihm geschah. „Stellt ihr beide euch mal bitte vor mich. Ich muss hier unten was machen.“ sagte sie und fing an, mit einem Stift irgendwas ans Häuschen zu malen. Paul konnte nicht erkennen, was es war und auch die Freundin sah nichts. „Nun dreht euch um! Wenn ihr zuguckt ist das doch total auffällig.“ entgegnete die am Boden sitzende Brünette.

Es vergingen ein paar Minuten, doch Paul kam es vor wie eine Ewigkeit. Er wollte sie ansehen, seine Zeit war doch begrenzt. Sobald er sich wieder umdrehen durfte, würde sie doch mit ihrer Freundin loslaufen und verschwunden sein. Er hatte immer noch ihren Duft in der Nase und es kam ihm vor, als ob seine Hand immer noch warm von ihrer Berührung war. Nun war es soweit. Die Situation löste sich auf. Pauls Traumfrau sprang auf und rief „Fertig. So, lass uns los. Becca wartet bestimmt schon.“ Paul musste nun seine Chance ergreifen, bevor die beiden weg waren – für immer. „Dann habt noch viel Spaß.“ stammelte er. „Den werden wir haben.“ antwortete die Brunette. Aus dem Nichts umarmete sie Paul und flüsterte ihm dabei „Und danke für die Fotos“ ins  Ohr. Paul war im Himmel. Er war wie gelähmt. Was geschah hier gerade? Sie umarmte ihn. Was mehr hätte er sich wünschen können? Er legte auch einen Arm um sie und antwortete „Gern geschehen.“ In dem Moment lies sie ihn auch schon wieder los, blickte ihm in die Augen und lief dann ihrer Freundin hinterher. Paul blickte den beiden noch solange hinterher, bis sie in der Menschenmenge verschwunden waren. Was war gerade passiert? Er stand bestimmt noch 10 oder 15 Minuten an der selben Stelle und hoffte, dass die beiden nochmal zurückkommen würden und vielleicht fragen, ob er mitkommen möchte. Aber sie kamen nicht. Sie kamen einfach nicht. Warum auch, dachte sich Paul. Wie konnte er davon ausgehen, dass sie das gleiche für ihn empfand, wie er für sie? Zumal sie ja die ganze Zeit in ihre Fotos vertieft war. Aber warum hat sie ihn dann umarmt? Mochte sie ihn? Oder war sie eine dieser Frauen, die jeden umarmen und immer gleich einen auf touchy machen? Bei Paul schwand so langsam die Euphorie, aber das Herzklopfen blieb. Er realisierte so langsam, dass er nichts hatte, was ihn an sie erinnerte, außer die warme Hand und ihren Duft in seiner Nase. Aber das würde vergehen und was bleibt dann? Nichts. Nichts, außer die Gedanken an sie und was hätte sein können. Hätte er was anders machen sollen? War es sein Fehler, dass er nicht forscher an die Sache rangegangen war? In dem Moment rempelte ihn jemand an und holte ihn aus seiner Gedankenwelt zurück in die  harte Realität. „Tut mir leid!“ hörte er eine Stimme zu ihm sagen, aber er schaute nicht weiter, woher sie kam, sondern immer noch in die Richtung, in die die beiden Frauen gelaufen waren.

All diese Gefühle hatte Paul im Laufe des letzten Jahres mehr oder weniger verdrängt. Es tat ihm nicht gut immer wieder daran zu denken und zu überlegen, was wäre, wenn er sie wiedersehen würde. Er hatte es eher mit den Worten aus Track 6 von Costellos „Armed Forces“ abgetan: „They say you‘re nothing but a party girl – Just like a million more all over the world“. Er musste ja weitermachen, sonst wäre er daran zerbrochen. Nun war er wieder am Checkpoit Charlie und alles kam wieder hoch. Seine Hand fühlte sich warm an. Die Umarmung, der Duft ihres Parfums und der Blick in ihre wunderschönen grünen Augen. Das alles ließ sein Herz wieder spürbar schlagen und versetzte ihn in einen Zustand, den er so nicht wieder wollte. Paul stellte sich an die gleiche Stelle und schaute wieder hoffnungsvoll in die selbe Richtung, wie damals. Was wäre wenn? Was, wenn sie jetzt angelaufen kommen würde? Was würde er anders machen? Er wusste es nicht. Er wird es wohl auch nie erfahren. Er kniete sich hin, genau an die Stelle, an der die schöne Brünette etwas an das Häuschen geschrieben hatte. Sie wusste ja nicht mal seinen Namen. Paul konnte an den Fingern abzählen, wie viele Worte er zu ihr gesagt hatte. Er fuhr mit dem Finger über die drei Wörter. Drei Wörter, die sich in sein Herz gebort hatten, wie die von einem Liebespaar, das seine Initialien in einen Baum ritzte. Drei Worte, die alles waren, was ihm von ihr blieb. Sie waren auf Englisch und leise flüsterte er sie immer wieder vor sich hin „Charly was here.“


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